Kann, bzw sollte man sich einen Jakobsweg zumuten, wenn man unter einer Depression, einer Angststörung oder einer PTBS leidet?

Ist es genau das Abenteuer, das man braucht um über sich selbst hinaus zu wachsen, oder stellt es sich als eine richtig dumme Idee heraus?

Pilgern mit psychischen Erkrankungen

Wenn man bedenkt, wie viele Menschen an einer psychischen Erkrankung leiden, wird schnell klar dass auch unter den Pilgern viele sein werden – die Umwelt bekommt es nur, wie im Alltag auch, in dem meisten Fällen nicht mit.

Denn oft hat man im Alltag längst seinen Weg gefunden trotzdem zu funktionieren und viele Mechanismen entwickelt das, was einem das Leben so schwer macht, zu verstecken.

Und das klappt meist so lange gut, bis man aus seiner Komfortzone heraus gerissen wird und an seine Grenzen gebracht. Und genau das passiert, wenn man einen Jakobsweg läuft. 

Riesige Chance oder totale Katastrophe?

Pilgern trotz Angststörung, Depression oder PTBS hat das Potenzial für beides. 

Wichtig ist: es gibt keinerlei Grund das pauschal auszuschliessen. Sich für einen Jakobsweg zu entscheiden kann sich als eine der besten Entscheidungen des Lebens heraus stellen. 

Es kann dafür sorgen dass man über sich hinaus wächst, völlig neue Seiten und Stärken bei sich kennen lernt. Dass man seine Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit neu entdeckt, soziale Ängste überwindet und als neue Version von sich selbst zurück kommt.

Muss aber nicht 🙂

Denn besonders die Menschen, die aus einem spontanen Impuls heraus völlig unvorbereitet aufbrechen oder die loslaufen, weil sie irgendwo gehört haben dass pilgern gut bei Depression sein soll, die laufen in Gefahr sich zu überfordern. Dann kommen sie zur Erkenntnis dass sie sie „einfach nicht für so etwas gemacht sind“, dass sie „wieder einmal scheitern“ und ähnliche Effekte, die sehr kontraproduktiv für die eigene Heilung sind.

Was braucht es damit ein Jakobsweg trotz Depression, Angststörung oder PTBS ein gutes Erlebnis wird?

Wenn du betroffen bist und dein Bauchgefühl sagt dass Pilgern gehen etwas ist, was dich weiter bringen könnte, dann habe ich folgende Ratschläge für dich:

1. Hol dir eine professionelle Einschätzung

Wenn du und deine Erkrankung sich gut und lange kennen, du bereits gute Mechanismen und Techniken kennst mit schwierigen Situationen umzugehen und in therapeutischer Begleitung bist, dann stehen die Chancen sehr gut dass ein Jakobsweg für dich eine richtig gute Idee ist.

Frisch aus der Burnout-Klinik –  oder sogar kurz davor – ist es zwar nicht ausgeschlossen, aber dann ist es umso wichtiger sicherzustellen dass eine Grundstabilität da ist und auf Hilfen zurück gegriffen werden kann, wenn es mal nicht gut läuft.

Wirklich einschätzen kann das aber nur jemand vom Fach und deswegen ist es ratsam hier mit Arzt/Ärztin oder Therapeut/in darüber zu sprechen. 

Und auch zu sich selbst ehrlich zu sein. Denn manchmal merkt man dann dass man sich selbst belügt und es einem eigentlich viel schlechter geht als man sich eingestehen möchte – und manchmal spürt man dass man eigentlich längst soweit ist sich etwas zuzumuten – und dass eigentlich nur der Mut und der Anstoss fehlt.

2. Hör nicht auf die anderen

Wenn du dich versuchst vorsichtig an das Thema heran zu tasten und dich in Foren und Facebook-Gruppen herum treibst und dort vielleicht sogar von deinen Ängsten berichtest, wirst du schnell folgende Dinge hören:

„Denk nicht zu viel nach, mach einfach!“

„Lass es einfach auf dich zukommen, der Weg gibt dir schon was du brauchst“

„Hotel? Die Herbergen gehören zum Pilgern dazu!“

Das mag alles gut gemeint sein und für die entsprechenden Autoren auch wahr, aber es ist mit einer hohen Wahrscheinlichkeit einfach nicht auf dich übertragbar.

Mit einer Depression kann man manchmal morgens einfach nicht aufstehen. Wenn einen die Pilgerherberge aber nach einer durchgegrübelten Nacht um acht Uhr vor die Tür setzt, ist es nicht verwunderlich wenn man dann völlig verloren am Strassenrand sitzt, den fröhlichen Pilgerscharen zuschaut und sich fragt was zur Hölle man hier eigentlich gerade macht.

Mit einer generalisierten Angststörung kann man nicht einfach mal schauen wo man abends so unterkommt und darauf vertrauen dass schon alles gut werden wird.

Und wenn man bei einer PTBS keine Homebase hat, keinen sicheren Rückzugsort, dann kann genau das auch das „zu viel“ sein, was Stabilität raubt und einen irgendwann zum Abbruch zwingt.

3. Pass gut auf dich auf

Ein Jakobsweg bringt nahezu jeden an seine Grenzen und viele darüber hinaus. Das kann etwas Gutes sein, denn man wächst daran – das muss es aber nicht. 

Denn bei Menschen mit entsprechenden Vorerkrankungen kann „über seine Grenzen gehen“ auch völlig nach hinten losgehen und in Panikattacken oder Flashbacks enden. 

Es ist unglaublich wichtig dass du auf dich hörst und dass du gut auf dich aufpasst.

Dir sind die Menschen zu viel? Dann verabschiede dich und zieh dich zurück! 

Wenn du mir jetzt entgegnen möchtest „sowas kann ich nicht gut“, dann antworte ich dir: ein Jakobsweg ist der perfekte Ort um genau so etwas zu üben. Du bist dort mit Menschen, die dir zwar zum einen sehr wohlgesonnen sind, Pilger sind ein sehr inklusives Völkchen, die du auf der anderen Seite aber auch nie wieder sehen musst. 

Es ist fast nirgendwo einfacher man selbst zu sein und sich auszuprobieren. 

Plane ausserdem in dein Budget ein, dass du mal ein Taxi nehmen wirst oder ein Hotel wechseln musst. 

Und daran ist nichts verkehrt – wer sich den Fuß verletzt, „darf“ auch Taxi fahren. Das Abenteuer mal Abenteuer sein zu lassen und sich einfach schnell an einen ruhigen Ort mit Bett und Wänden drumherum bringen zu lassen, ist genauso legitim wenn es einem emotional nicht gut geht.

4. Sei so vorbereitet, dass du dich sicher fühlst

Du bist im Alltag kein Mensch, der tiefenentspannt das Leben einfach auf sich zukommen lässt?

Warum sollte das anders sein, wenn du alleine in einem fremdem Land mit Rucksack durch die Pampa läufst?

(Spoiler: die Chancen, dass du im Laufe der Zeit immer entspannter wirst und irgendwann wirklich darauf vertraust dass der Weg dir schon gibt was du brauchst, stehen ganz schön gut!)

Wenn es dir für die emotionale Vorbereitung hilft, den ausgewählten Jakobsweg im Detail zu studieren, dann mach das. Wenn du nur dann genug Sicherheitsgefühl hast, wenn du zig Bücher gelesen hast, dann ist das eben dein Weg, daran ist nichts verkehrt.

Wenn du Angst davor hast vorgefertigte Etappen nicht zu schaffen, dann lass dir von jemandem wie mir die Etappen individuell auf dich zuschneiden.

Wenn du möglichst genau wissen willst was dich wann erwartet, wie lange der Abschnitt durch den Wald dauert und nach wie vielen Kilometern die nächste Bar kommt, dann lass dir von mir einen Pilgerführer mit diesem Detailgrad schreiben.

5. Reise mit Werkzeugkoffer

Hab dabei, was immer dir hilft.

Wenn du Medikamente nimmst, schau dass du genug bei dir hast. Wenn du zB zu Panikattacken neigst, bisher aber keine Medikamente dagegen nimmst, dann überleg dir ob du nicht für den Notfall doch etwas mitnehmen möchtest, und wenn es nur für das gute Gefühl ist.

Wenn du in Therapie bist, hol dir Tipps wie du ganz konkret mit einzelnen Situationen umgehen kannst, die dich fordern werden.

Wie du zum Beispiel grübeln stoppen kannst – so lange wie beim Pilgern ist man im Alltag selten mit seinen Gedanken alleine, das kann dann natürlich auch mal in die falsche Richtung abrutschen. 

Mach dir eine Liste, auf welche Menschen du in welchen Situationen zurück greifen kannst – wer kann dir am besten helfen, wenn du mal nicht mehr an dich glaubst? Wen kannst du auch mitten in der Nacht anrufen? Wer weiss wie man Panikattacken stoppt und was zu tun ist, wenn dich ein Trigger unerwartet aus Raum und Zeit gerissen hat?

Und auch wenn das jetzt (völlig legitime) Eigenwerbung ist: buch eine digitale Begleitung bei jemandem, der den Weg kennt, der weiss wie sich pilgern anfühlt (das lässt sich den Lieben daheim gar nicht so einfach erklären) und der dir Ansprechpartner für alle Lebenslagen sein kann.

Fazit

Mein Fazit zum Thema „Pilgern mit Depression, Angststörung oder PTBS“ ist dass ich es ganz unbedingt empfehle, wenn die Grundstabilität dafür vorhanden ist.

Wenn der Arzt/Ärztin oder Therapeut/in davon abrät, dann sollte man sich das wirklich gut überlegen ob das Risiko, dass es zu einer teuren Lehrstunde wurde, nicht doch zu hoch sind.

Für alle anderen sehe ich aber vor allem die Chance, etwas lebensveränderndes zu erleben, Selbstvertrauen zu gewinnen und Ängste zu überwinden, über sich selbst hinaus zu wachsen und sich ganz neu kennen zu lernen.

Beim einen ist es alleine schon viele Bewegung, beim anderen die täglichen Stunden in der Natur, beim nächsten ist es die Gemeinschaft und die Gespräche mit Menschen aus aller Welt. Bei den meisten ist es vor allem das Gefühl etwas zu schaffen. Stolz auf sich zu sein für jede einzelne Etappe, die man gemeistert hat. Jeden Tag etwas neues zu erleben und mit jedem Tag idealerweise mehr Vertrauen in sich und die Welt aufzubauen.

Dazu kommt die Distanz zum Alltag, einmal ganz raus sein, weg aus den bisherigen Mustern, weg von seinen Alltags-Menschen und seinen Alltags-Aktivitäten.

Einen Jakobsweg zu laufen – und sei des nur der kleine von Porto nach Santiago, der nur 2 Wochen braucht, hat das Potenzial einen riesigen Sprung nach vorne zu bewirken und als „neuer Mensch“ zurück zu kommen.

Trau dich!